Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde – Heinz Rudolf Kunze

„Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde“. Genau das habe ich gedacht, als ich 1984 spätabends auf der A44 an Kassel vorbei fuhr. In meinem Autoradio lief dieses Album und ich hatte noch etwa drei Stunden bis nach Hause. 1984 war ein entscheidendes Jahr für mich. Trennung und Abschied, erste selbstgeschriebene Songs, andere Freunde, ein kompletter Neuanfang. Das passierte nicht alles auf einmal sondern nach und nach. Ich schloß mit meinem ersten Lebensabschnitt ab, etwas Neues wartete auf mich. Cool, so muß das auch für Heinz Rudolf Kunze gewesen sein, als er dieses Album veröffentlichte.

Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde von Heinz Rudolf Kunze im 2-CD-Live-Set
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Kunze & Co.

Kunze soll einmal sinngemäß gesagt haben, dass das Schreiben aus einem Defizit im Leben heraus entstehen würde. Hat er damit recht? Jedenfalls hat er mich mit seinen Texten ohne Frage beeinflusst. Mit Wolfgang Niedecken und Georg Danzer war Kunze der Dritte im Bunde, die Anfang der achtziger Jahre mit ihren Worten und der dazugehörigen anglo-amerikanischen Ausrichtung ihrer Musik den Weg in meine Ohren fanden. Besonderes beeindruckt hat mich Heinz Rudolf Kunze mit seiner klaren Aussprache – ich konnte alles direkt verstehen. Bei Niedecken und Danzer brauchte ich ab und zu das beiliegende Textblatt.

Auf der Durchreise

Kunze wurde in der Presse als Niedermacher beschrieben. Vermutlich wollte sein Management für ihn ein Alleinstellungsmerkmal herbei schreiben. Wie ich auf den Niedermacher aufmerksam wurde, weiß ich nicht mehr. Es muß sein Lied „Auf der Durchreise“ gewesen sein. Der Song passte in die beginnende Neue Deutsche Welle. Trotzdem war da etwas Ernstes, etwas Unterschwelliges in der Musik. Das war Humor, keine Blödsinn, sondern ironisch-gebrochene Satire. Ich war intellektuell überfordert. Dann übertrug das Fernsehen ein Konzert von Kunze, und ich hatte den Eindruck, dass der Mann mir was zu sagen hat. Und dann kam Klaus vorbei und lieh mir diese Platte . Das Album trug den merkwürdigen Titel „Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde“. Aus meiner Sicht hätte „Auf der Durchreise“ besser gepasst. Aber Kunze war und ist ein Wortakrobat.

Politische Bildung

Im Rückblick wird mir klar, dass die Texte mich irritierten. Ich war politisch noch indifferent, hatte mit keiner Partei etwas zu tun, hatte nie bei einer Demonstration auf der Straße gestanden. Zum Nachdenken haben mich die bereits oben genannten Personen gebracht. Ich glaube, dass der Einfluss ihrer Texte noch heute unterschätzt wird. Meistens steht die Musik im Vordergrund und nicht so sehr das Wort. Und genau hier begann meine Reise mit Kunze. Viel zu selten wird über den Einfluss gesprochen, die Texte auf den Zuhörer hinterlassen. Aber gerade Menschen wie Heinz Rudolf Kunze transportieren Meinungen, Anschauungen und auch Lebensentwürfe und tragen dazu bei, dass andere darüber nachdenken und Entscheidungen treffen, die ihr Leben bestimmen.

Ich habe von Kunze viel gelernt. Ich habe seine Worte im Ohr gehabt, wenn ich Texte geschrieben habe. Und seine Melodieführung hat mir geholfen, eine Struktur in meine Gedanken zu bringen. Auslöser war genau dieses erste Live-Album mit Kunzes Zwischenansagen, seinen Gedanken und der direkte Übergang zu den Songs. Auch die Atmosphäre in der Hamburger Markthalle trug dazu bei. Es handelt sich hier nicht um eine besonders große Lokalität und die Stimmung trägt zur Intimität bei. Man kann sogar das Klatschen von einzelnen Zuschauern hören.

Die Städte sehen aus…

Mit „Eine ruhige Kugel“ beginnt das Album, ein Song über Frühpensionierung, Arbeitslosigkeit, über viel Zeit zu Hause, mit der der Protagonist nichts anzufangen weiß. Da ist Kunze heute noch ganz nah dran an der Wirklichkeit. Es ist nicht einfach, wenn der Job so viel wichtiger ist oder war. Oder wenn man seine Talente in den Dienst fremder Leute oder Organisationen gestellt hat und plötzlich nicht mehr gebraucht wird. Man sollte sich allerdings keine Kugel in den Kopf schießen.

Wie schön Kunze Stimmungen ausbuchstabieren konnte, zeigt uns „Der schwere Mut“. Nie klang ein deutscher Musiker so ambivalent wie mit diesen Zeilen: „Ich pflanze einen Baum in meine Wut, mein Lebensmittel ist der schwere Mut.“ Die Musik klingt positiv und Kunze singt den Text mit einem ebenso fröhlichen Unterton. Noch heute frage ich mich, ob ich den Text überhaupt richtig verstanden habe. Und genau diese „Merkwürdigkeit“ machte Kunze für mich so wichtig, so nachdenkenswert und ungemein unterhaltsam.

An die „Variationen über einen Satz des Bundesinnenminister aus dem Monat Juli des Jahres 1983“ kann ich mich noch gut erinnern. Der Minister hieß damals Zimmermann und der sagte nicht nur „Gewaltloser Widerstand ist Gewalt“ – der versprach auch nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, dass von diesem Unfall keine Gefahr für die deutsche Bevölkerung ausgeht.

…wie schlafende Hunde

Ruhige Songs wie „Deutschland (verlassen von allen guten Geistern)“ wechseln sich ab mit Einlassungen und gesprochenen Texten. Und dann kommt noch ein Kinderlied, dass ich auch heute noch gerne höre. Das Lied habe ich vor 30 Jahren meinen kleinen Kindern vorgespielt und ihnen danach ein Eis gekauft. Darum und nur darum geht es im Leben. Wer die zwischen den Zeilen stehende Botschaft nicht hört oder hören will, der kann einem leid tun.

Kunze verliert während der Konzerte (das Album wurde an zwei Tagen eingespielt) niemals mein Interesse. Ich fühle mich durchgehend persönlich angesprochen und nicht allein gelassen. Wieviele Künstler können das von sich behaupten. Meiner Ansicht nach kann das auch nur in meiner Muttersprache gelingen. Und da gibt es nur eine Handvoll Künstler, die sich nahbar geben. Ob Kunze das ist, vermag ich nicht zu sagen, jedenfalls gelingt es ihm auf diesem Album. das Während die dritte Seite des Albums uns mit „Keine Angst“ entläßt, empfängt uns die vierte Seite mit „Lisa“, einem der eindrucksvollsten Songs dieser Zeit.

„Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde“ ist und bleibt ein zeitloses, sehr gutes und wichtiges Live-Album des ersten Karriereabschnitts von Heinz Rudolf Kunze. Weiter Live-Alben werden folgen, das nächste bereits drei Jahre später („Deutsche singen bei der Arbeit“), da bereits mit neuer Verstärkung auf ganz anderem Niveau. Aus meiner Sicht sehr kommerziell und weniger anspruchsvoll. Dies ist nicht böse gemeint, ich hätte damals auch das Geld genommen.

Bestandsaufnahme

„Bestandsaufnahme“ ist das letzte Stück auf diesem Live-Album. Ich habe lange gebraucht, um den Text richtig zu verstehen. Und bis heute frag ich mich, warum „die 27 vor dem Komma steht“ (im Original heißt es noch 23)? Kunze rekapituliert in diesem Text ein ganzes Leben. Und für mich hat er da meinen Vater beschrieben. Aber gleichzeitig auch meine Klassenkameraden, meine Freunde, mich. Ich war gerade genauso alt und hatte von all dem, was er in diesem Text beschreibt, keinen blassen Schimmer. Aber vielleicht ist es ja gerade dieser Widerspruch, diese Ambivalenz der Worte, die diesen Song so erinnerungswürdig macht.

Zeit, sie zu wecken

Die musikalische Relevanz hat er nach meiner subjektiven Meinung nach diesem Album verloren. Die Lieder wurden für ein größeres Publikum komponiert – und Kunze war damit auch sehr erfolgreich. Er hat einfach nicht mehr in einer Sprache mit mir gesprochen, die ich verstanden haben. Aber dieses Album habe ich verstanden, mit diesem Album war Kunze wichtig. Und eben relevant. Wichtig ist er immer noch. Und wenn die Städte heute wieder aussehen wie schlafende Hunde, ist es Zeit, sie zu wecken.

Daten zur CD „Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde – Heinz Rudolf Kunze“

Erscheinungsjahr1984/1990
HerkunftslandDeutschland
Barcode0 2292 40336 2 9
LabelWEA
AnmerkungenAufgenommen am 05.06.1982 im Stadtpark Hamburg
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Daten zur hier bewerteten CD

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