Als alter Sack mit 61 Jahren bin ich trotzdem immer noch der Jugend genug geneigt geblieben, um zumindest für ein paar Sekunden lang mir die aktuell gehypten neuen Stars aus aller Welt anzuhören. Ich habe Blackpink und BTS überstanden, Billie Eilish und wen noch alles. Jetzt gibt es schon wieder etwas Neues, nämlich Olivia Rodrigo. Die hatte mit gerade mal 19 Jahren vor knapp 2 Jahren ihre Debütplatte „Sour“ veröffentlicht. Nun legt sie mit „Guts“ ihre zweite Platte vor. Und was soll ich sagen? Bewegt Euren Hintern, holt Euch die Scheibe und sperrt die Ohren auf. Was Olivia mit ihren Garagenfreundinnen und -freunden spielt ist einfach nur verdammt gut.
„All American Bitch“ eröffnet den Soundreigen von Guts mit einer sanft gezupften Gitarre und haut einem dann diese Gitarre direkt um die Ohren. Unter der aggressiven Grundstimmung liegen mehrere zärtliche Melodien versteckt, die es zu entdecken gilt. Natürlich schreibt Oliva über die Dinge, die eine junge Frau gerade beschäftigen. Und dies macht sie ausgesprochen gut.
Guts
jetzt kaufen
Das Brett geht weiter und auch der zweite Song „Bad idea right?“ ist mit einem Mitsing-Chorus ausgestattet. Live funktioniert das jedenfalls, die Livies singen jede Zeile mit.
In einer Liga mit den großen Stars
Mit „Vampire“ haut Olivia Rodrigo ihre erste Single des Albums raus und spielt sofort in einer Liga mit den ganz großen Stars. Die Art wie sie die Zeilen zerdehnt, flüstert, schreit oder was auch immer, ist ganz großes Songkino oder eben auch ein Blockbuster, der die Kino-Leinwand zerreißt. Besser als Barbie? Ja, klar, der Film war doch großer Mist, wenn man ehrlich ist. Dagegen ist Olivia Rodrigo echt und macht eindeutig viel mehr Spaß, als dieser pinkfarbene Mist.
Danach geht Oliva runter vom Gaspedal und singt über „Spitzenwäsche“, die ihr gar nicht gut tut. Hier gibt es Botschaften, die ihre Peer-Group momentan ebenfalls im Kopf hat. Endlich weiß ich, was im Kopf einer Zwanzigjährigen so vorgeht, eben der „social suicide“, wie sie uns im Song “ Ballad of a Homeschooled Girl“ erzählt.
Der Geheimfavorit auf Guts
Mein Geheimfavorit des Albums ist „Making the Bed“. Die Melodie bleibt erst beim zweiten oder dritten Durchlauf hängen, dann aber richtig und bleibend. Olivia Rodrigo hinterfragt sich und ihre Karriere und das macht sie aufrichtig und nachvollziehbar. Die schleppenden, verwaschenen Drums im Hintergrund tun das Übrige und unterlaufen wunderschön die Erwartungen des Hörers, der sich wünscht, dass dieser Song doch bitte ein, zwei Minuten länger dauern könnte.
Wir hören den nächsten Song „Logical“, der ein wenig generisch klingt, obwohl er makelos gesungen wird. Trotzdem ist er ein weiterer Ruhepol im ansonsten stürmisch nach vorne drängenden Album, das viel zu schnell dem Ende entgegen zu gehen scheint. Aber halt, nicht zu schnell. Jetzt gibt es erst einmal den Liebling aller Fans, nämlich „Get Him Back“. Der Text ist wichtig und wirklich lustig, zumal er das Gegenteil von dem meint, was die Sängerin uns die ganze Zeit ins Ohr plärrt. Sie will den Typen gar nicht wieder haben, sie will sich nur ein wenig rächen. Und genau diese Gefühle, die Olivia hier transportiert, kennen wir noch alle aus unserer eigenen Jugendzeit nur allzu gut.
Mit „Love Is Embarrising“ erlaubt sich die Künstlerin einen musikalischen Ausfall – hier rein, da raus. Gottseidank kommt sie direkt danach mit „The Grudge“ wieder in die Spur. Und ja, die Balladen sind das große Pfund, mit dem Oliva Rodrigo wuchert, wuchern kann.
„Pretty Isn’t Pretty“ läuft ebenfalls geradeaus und hat leider ein paar Synthie-Streicher im Gepäck. Und dann spielt „Teenage Dream“ den Rauswerfer. Das Klavier klingt echt wie auch die Gefühle und Stimmungen dieses Songs. Und auch der Text geht unter die Haut und ist ehrlich, schlau und bringt viele wichtige Erkenntnisse, die eine Zwanzigjährige unbedingt reflektieren muss.
Und vielleicht ist hier ja auch der Punkt erreicht, um über eine künstlerische Trennung von ihrem musikalischen Partner Daniel Nigro nachzudenken. Ich wäre schon sehr neugierig, was sie ohne Daniel machen würde. Würde sie ihr eigenes Korrektiv sein? Oder auch ganz anderes Zeugs schreiben? In spätestens zwei Jahren sind wir schlauer. Bis dahin hören und haben wir Guts. Im wahrsten Sinne des Wortes. Olli Kahn läßt grüßen.
Mehr Rezensionen zu Musikalben und Schallplatten gibt’s hier:
- Blütenduft – Götz Widmann: Partyexzesse & leise Funken
- G.L.S.M. – Marten McFly: Schlager trifft auf Weltuntergang
- Guts – Olivia Rodrigo: Ein echtes Statement der jungen Künstlerin
- Postcards – Days of August: Klangwelten aus Norwegen
- Mondlandung – Andreas Liebert: Von Moabit bis zum Mond
- Vinicio Capossela feiert mit „Sciusten Feste n.1965“ das Festtagschaos
*Werbehinweis für Links: Es handelt sich um einen sog. Affiliate-Link. Wenn auf der verlinkten Website etwas eingekauft wird, erhalten wir eine kleine Provision.