Out of the blue – Electric Light Orchestra

Tante Martha rauchte ihre Zigaretten am liebsten mit Hilfe einer schwarzen Zigarettenspitze. Eigentlich war sie gar nicht meine richtige Tante, dass hat man mir zu ihren Lebzeiten nie gesagt. Ich war immer im Glauben, sie wäre eine Verwandte, die mit ihrem Sohn im Gurkenland lebt, einem von Eisenbahngleisen eingerahmten Stadtteil von Düsseldorf. Jedenfalls hat mir Tante Martha Weihnachten 1977 eine große Freude gemacht und mir das erste Doppelalbum des Electric Light Orchestra „Out of the blue“ geschenkt. Warum sie das gemacht hat, hab ich völlig vergessen. Ich erinnere mich nur nach daran, dass mein Vater mit mir am ersten Weihnachtstag ins Gurkenland fuhr (ich war vorher noch nie dort), um bei Tante Martha diese Platte abzuholen. Da saß ich nun und schaute mir die Zigarettenspitze an. Zuerst mußte ich noch die besten Grüße ausrichten und mitnehmen, bevor ich endlich die Platte in Empfang nehmen durfte.

Doppelalben hatten damals eine magische Ausstrahlung. Sie waren doppelt so lang, es gab doppelt so viel zu sehen, meistens lagen den Platten noch Poster bei und die Texte sollten auch abgedruckt sein. Und dieses Doppelalbum fühlte sich in meinen Händen nach ganz viel mehr an. Dicke Innersleeves aus Pappe schützten das Vinyl, das fand ich großartig. Texte waren ebenfalls darauf abgedruckt und es gab auch noch irgendwas zu Basteln (es soll ein Raumschiff gewesen sein – daran kann ich mich nur noch wage oder gar nicht mehr erinnern). Woran ich mich erinnere, ist diese Perfektion, die von diesem Album auging. Jeder Song ein Hit, keine Füller, keine Langeweile, alles absolut großartig. Überhaupt fiel Weihnachten in diesem Jahr besonders üppig aus. Von meinen Eltern bekam ich „Seconds out“ von Genesis geschenkt, ein weiteres ganz wundervolles Album und völlig anders als „Out of the blue“. Aber das ist eine andere Geschichte.

Out of the blue – eine Ölquelle

„Turn to stone“ eröffnet die Platte und der Sog, der dabei entsteht, ist auch heute noch unerhört stark. Auch jetzt beim Schreiben dieser Kritik fallen mir direkt auf Anhieb die Namen der nachfolgenden Stücke ein. Wie bereits gesagt, sind alle Stücke gleich stark, eine Besprechung aller Songs erübrigt sich daher. Viel mehr möchte ich über meine Erinnerungen an diese Zeit schreiben und die Songs mit dabei einfließen lassen.

Mein Freund Michael hatte zu Weihnachten keine Platten bekommen, er war gerade erst 14 geworden. Er freute sich eher über eine neues Brettspiel von MB mit dem Namen „Öl-Magnat“. Damit spielten wir stundenlang und hörten gleichzeitig das Doppelalbum von ELO. Wir waren also beide zu Weihnachten quasi auf Öl gestoßen.

„Jungle“ sollte aus unserer Sicht die nächste Singleauskopplung werden. Wir rätselten stundenlang, was genau der Chor im Mittelteil sang. Es hörte sich irgendwie deutsch an. Auch Tarzan kam darin vor und wir waren überzeugt davon, das dieser Song eine Nummer eins wird. Stattdessen stellte der WDR in seiner Diskothek „Sweet talkin‘ woman“ vor. Wir waren enttäuscht, doch der Erfolg stellte sich auch bei diesem Song ein, zumindest im Radio. Während die Singles in den deutschen Charts nicht besonders erfolgreich waren, war dies im Rundfunk völlig anders. Im Radio wird „Wild west hero“ die erfolgreichste Single und 1978 insgesamt 18 Wochen lang gespielt. Noch erfolgreicher ist in dieser Sendung 1979 allerdings „Don’t bring me down“ vom Nachfolgealbum „Discovery“ gewesen, das ein ganzes Jahr lang jeden Samstagabend gespielt wird.

Ein neuer Weltrekord

War das Vorgängeralbum „A new world record“ fabelhaft, ist „Out of the blue“ meiner Ansicht nach der Höhepunkt gewesen. Beide Alben zusammen bilden sind die Essenz der Band. Die Alben davor und danach sind auch sehr gut, aber mit diesen beiden Scheiben hatte Jeff Lynne seine beste Zeit. Aufgenommen wird „Out of the blue“ erneut im Musicland-Studio in München, das im Basement eines Hotels seinen Platz hatte. Für das Arrangement der Musik waren Richard Tandy und Louis Clark zuständig. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass Jeff Lynne keine Noten konnte. Er sang deshalb die Songs Richard Tandy vor, der wiederum spielte dazu die passenden Harmonien auf dem Klavier.

Out of the blue – Regen ohne Ende

Das Album besitzt eine zwingende Konsistenz. Alles ist aus einem Guss und klingt auch heute noch besser, als alles andere, was Jeff Lynne danach aufgenommen hat. Das Album macht keine Gefangenen, man ist komplett verloren, wenn man das „Concerto for a rainy day“ gehört hat. Lynne komponierte viele Lieder in der Schweiz, es regnete dort tagelang. Das Ergebnis ist eine Suite, die mit Hilfe des „Mr Blue Sky“ den Sonnenschein herbei betet. Dieses Stück entwickelt einen solche Sog, vor allem wenn man es erstmals hört. Zweimal wird man an der Nase herum geführt. Man denkt, das Stück ist aus, da kann nichts mehr kommen. Und dann geht es doch noch einmal los. Bis uns Richard Tandy mit seiner mit Hilfe eines Vocoders verzerrten Stimme nach Hause entläßt.

Unsterblich

Tante Martha ist in den Neunziger Jahren verstorben. Sie hat diese Musik niemals gehört und sie wußte auch nicht, was für eine Freude sie mir damit machte. Und ich weiß bis heute nicht, wer diese Frau eigentlich wirklich war. Aber mit diesem Album hat sie sich bei mir unsterblich gemacht. Andere nehmen Platten mit auf die einsame Insel, ich nehme diese Platte mit ins Grab. Damit ich sie dann meiner Tante im Himmel vorspielen kann. Ich werde ihr eine schwarze Zigarettenspitze mitbringen.

Daten zur Pressung

Erscheinungsjahr1977
HerkunftslandGroßbritannien
KatalognummerUAS 1100
Label Jet Records
PreisBei Amazon gibt’s im Januar 2023 die 180 Gramm Schallplatte für ca. 35 Euro*
Daten zur hier bewerteten Pressung

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