„Who’s Next“? Wer pinkelt als nächster die Wand an? Es ist eines der besten und ironischsten Albumcover, das ich jemals gesehen habe. Und es ist eines der besten Alben, das ich jemals hören durfte. An Bord ist endlich das damals gescheiterte und visionäre „Life House“-Projekt, und zwar mit allem, was dazu gehört: CDs, Vinyl, Blu-Ray, Buch, Comic, Pins und vieles mehr.
Who’s best
Es ist Weihnachten 2023 und in den letzten Jahren habe ich mir immer vorgenommen, in dieser Zeit „neue“ Musik zu entdecken. The Who habe ich meistens links liegen lassen. Das lag vor allem an der aus meiner Sicht unschönen Stimme von Roger Daltrey, dem Sänger der Band. Dass er sich auch noch als „Brexiteer“ geoutet hat, brachte für mich das Fass zum überlaufen.
Anders ist dies allerdings, wenn es um den Songsschreiber, Sound-Bastler und Multi-Instrumentalisten Pete Townshend geht. Denn ich liebe seine Solo-Alben, allen voran „Empty Glass“ von 1980. Und dann sind da ja noch John Entwistle am Bass und natürlich Keith Moon am Schlagzeug. Beide Musiker zu erklären ist schlicht unmöglich. Was Entwistle und Moon mit ihren Instrumenten veranstaltet haben, kann man einerseits als virtuos, andererseits nur als verrückt bezeichnen. Und ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass ich die Klangfarbe von Townshends Stimme immer als warm und angenehm empfand.
Worum geht’s?
Anders als bei der Rockoper „Tommy“ wird die Lifehouse-Geschichte nicht über die Songtexte transportiert – dies sollte über das visuelle Medium „Film“ erfolgen. Und die Story ist hochaktuell. In der faschistischen Welt des 21. Jahrhunderts findet der „Hacker“ zur Musik des vorherigen Jahrhunderts zurück. Er möchte, das sich alle Menschen zusammen finden, um jeweils ihre eigene Note, ihren eigenen Sound zu spielen. Das Konzert findet statt, und gerade als die Ordnungskräfte das Ereignis unterbinden wollen, schaffen es die Menschen, den einen universellen Ton zu treffen und verschwinden zusammen mit ihrem Publikum auf geheimnisvolle Weise.
Das habe ich jetzt ziemlich vereinfacht dargestellt. Denn die Story ist hochkomplex erzählt und Townshend schaffte es nicht, seine Bandkollegen noch die Plattenbosse davon zu überzeugen.
Townshend hatte bereits mehr als zwanzig Songs geschrieben, als das Projekt auf Eis gelegt wurde. Pete gab entnervt auf und die nächsten 30 Jahre lagen die Stücke im Archiv oder erschienen wiederum außerhalb ihres angedachten Kontexts als Demo-Aufnahmen auf verschiedenen Solo-Alben des Künstlers. Lediglich acht Stücke landeten dann 1971 zusammenhangslos auf „Who’s Next“.
Who’s Next – Das Album
Über das Album ist schon viel geschrieben worden. Wer wissen will, wie gut „The Who“ damals waren, braucht nach landläufiger Meinung nur diese eine Platte. Ich sehe das allerdings etwas differenzierter. Denn meiner Meinung nach braucht man zusätzlich noch sämtliche Lifehouse-Stücke sowie die Alben „Tommy“ und „Quadrophenia“. Darüber hinaus noch sämtliche Solo-Alben von Pete Townshend.
Die Box wiegt 4 kg
Viele glauben, dass sich Pete Townshend damals auf dem Höhepunkt seines Schaffens befunden hat. Ich lasse das mal so stehen, weil auf dem Album nicht ein schwaches Stück zu hören ist. Und die ganze Band spielt unglaublich „tight“ (mir fällt keinen deutsches Wort ein). John Entwistle zupft einen energischen und sehr melodiösen Bass, aber das hat er eigentlich immer getan. Keith Moon trommelt weiterhin ohne jede Regel auf mindestens 98 Tomtoms rum und auch Roger Daltrey ist gut bei Stimme. Ich mache mir hier nicht die Mühe, die einzelnen Songs zu besprechen, das haben andere vor mir schon zur Genüge getan.
Heute, mehr als 50 Jahre später gibt es die volle Dröhnung. Denn auf der Super-Deluxe-Ausgabe des „Who’s Next | Life House“-Album versammeln sich insgesamt 155 Stücke verteilt auf 10 CDs, darunter 89 unveröffentlichten Demos und Mixe, und, das ist aus meiner Sicht das Beste, mit Pete Townshend und nicht Roger Daltrey am Mikrofon. Weiterhin gibt es Konzertaufnahmen aus dem Jahr 1971.
Hier die Inhaltsliste:
CD 1: Das Originale Who’s next Album
CD 2 und 3: Pete Townshends Demos für Life House
CD 4: Sessions, aufgenommen in New York
CD 5: Sessions, aufgenommen in London
CD 6: Weitere Sessions und Singles
CD 7 und 8: Live-Aufnahmen London
CD 9 und 10: Live-Aufnahmen San Francisco
Blu-ray: Who’s Next-Album und Bonus-Stücke, gemixt von Steven Wilson
Natürlich braucht man viel Zeit, um alles zu verdauen und einzuordnen. Aber das macht gerade den Reiz von Boxsets aus. Und auch der Preis hat sich mittlerweile von zuerst mehr als 200 Euro auf akzeptable 130 Euro eingependelt. Dafür gibt es einen legitimen Gegenwert.
Pure And Easy
„Pure And Easy“ habe ich 1982 erstmalig gehört. Der Song stellt den Höhepunkt der Life House Geschichte dar. Der Ton, der die Menschheit rettet, muss einfach und rein sein. Und das Lied entfaltet durch seine schöne Melodie alles, was einen guten Song ausmacht. Damals habe ich mir vom Wühltisch für 10 Mark Pete Townshends Solo-Album „Who Came First“ aus dem Jahre 1972 gekauft. Schon hier fand der Ausverkauf des Life House Konzepts statt. Auf der Rückseite des Plattencovers gab es zwar ein paar erklärende Worte, damals fehlten mir aber sämtliche Hintergrundinformationen zum Thema. Heute sind diese Infos vor allem auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite zu finden.
Teenage Wasteland
Was mir bei „Baba O’Reilly“ immer besonders gut gefallen hat, war die Stelle, an der Townshend den Leadgesang übernimmt und „Don’t cry, don’t raise your eye, it’s only teenage wasteland“ singt. Hier kann man den kompletten Song in seiner ursprünglichen Intention hören, diesmal komplett von Townshend selbst gesungen. Das Stück dauert fast sieben Minuten und davon ist keine einzige Sekunde zu viel.
Mit „Too Much“ folgt danach ein Song, der damals ebenfalls der Schere zum Opfer fiel und keinen Platz auf dem „Who’s Next“-Album fand. „Too Much of Anything“ singt Townshend hier, wahrscheinlich war es das auch für die Plattenfirma, die einem fragwürdigen Konzept kein Doppel- oder Dreifach-Album zugestehen wollten.
Dass man darauf mehr als 30 oder auch 50 Jahre warten musste ist ein Skandal. Anfang 2000 gab es erstmals die Möglichkeit, die Lifehouse-Chronicles als Box-Set zu kaufen, damals allerdings nicht unter dem Bandnamen „The Who“. Ob es nun Lifehouse oder Life House heißen muss, keine Ahnung. Beide Schreibweisen habe ich jeweils den Alben entnommen.
Behind Blue Eyes
Dass die Who immer schon eine großartige Live-Band waren, zeigen erneut die Konzertaufnahmen aus London und San Francisco. Aber auch die Klangqualität ist für mehr als 50 Jahre alte Aufnahmen hochwertig. Der „Young Man Blues“ klang auch schon auf „Live at Leeds“ hervorragend. Dem steht diese Live-Aufnahme aus dem Londoner Young Vic Theatre in nichts nach. Die Band stellte bei diesen Londoner Aufnahmen das neue Life House Material erstmalig einem Publikum vor. Anschließend war man entäuscht darüber, dass das Material live nicht überzeugen konnte. Somit ein weiterer Grund, das Projekt abzublasen und in die Tonne zu kloppen.
Warum weder die Band noch die Plattenfirma das Potential der Songs erkannten, bleibt mir schleierhaft. Hier wird beispielsweise zum ersten Male „Behind Blue Eyes“ angekündigt und gespielt. Sogar Daltrey kann mir hier mit seiner Stimme durchaus gefallen.
Muss man die Box haben?
Aber ja, natürlich, keine Frage! Denn das ist alles hochwertig aufbereitet und unbestritten eines der klassischen Alben der frühen siebziger Jahre. Für mich persönlich genauso wichtig wie „The Kinks are the village green preservation society“ und damit unverzichtbar. Aber die Kinks-Box ist bereits ausverkauft, diese Box gibt es gerade zu einem günstigen Preis und wer jetzt nicht bestellt, dem oder der oder wem auch immer ist nicht mehr zu helfen.
Daten zum Who’s Next | Life House Box-Set
Erscheinungsjahr | 2023 |
Herkunftsland | Deutschland |
Barcode | |
Labelcode | LC000309 |
Preis | Im Dezember 2023 bei Amazon für ca. 133 Euro gekauft. Jetzt aktuellen Preis bei Amazon hier prüfen. |
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