Ich bin kein Musiker, ich kann nach mehr als 45 Jahren nicht mal drei Gitarrenakkorde hintereinander fehlerfrei spielen. Warum muß also gerade ich Genesis und „Selling England by the pound“ besprechen? Weil ich mich nach so langer Zeit entschuldigen will. Die Platte dauerte über 50 Minuten und passte nicht auf einer C90 Cassettenseite. Ich mußte ein Stück weglassen…
Genesis zu Gast bei mir zu Hause
Bernd war der einzige in meiner Klasse, der eine größere Plattensammlung hatte als ich. Da standen Platten unter der Kompaktanlage, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Roxy Music oder auch Paris mit Bob Welch und 801 mit Phil Manzanera. Bernd hatte in seinem Zimmer auch ein Tourplakat von Genesis hängen, nämlich „A Trick of the tail“, welches ganz wundervoll gelb leuchtete und merkwürdige Figuren zeigte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt die Band bereits live gesehen. Es war der Herbst 1977 und ich fing gerade erst an, mich mit Genesis zu beschäftigen. Bernd kam zu mir nach Hause und wir hörten immer wieder“Nursery Cryme“ an. Dazu spielten wir imaginär mit, Bernd an der Gitarre und ich am Keyboard. Gottseidank gibt es davon keine Bilder.
Auch Sabine empfahl mir, mich mit Genesis zu beschäftigen. Allerdings sollte ich mit „The lamb lies down on broadway“ anfangen. Da gäbe es diesen einen tollen Song „Carpet Crawl“, den sie mir dann auch auf meinen Merkzettel schrieb. Thomas wiederum war völlig anderer Meinung. Mit seinem Zeigefinger deutete er auf mich und sang dabei diese eine Zeile „You are a robbing hood…“, von der ich keine Ahnung hatte, was sie bedeuten sollte. Ich mußte mir also unbedingt Klarheit verschaffen.
Wie ein Wirbelsturm: Selling England by the Pound
„Selling England by the Pound“ brach über mich herein wie ein Wirbelsturm. Ich war völlig unvorbereitet, als ich zum ersten Male die Platte auflegte. „Can you tell me where my country lies?“ fragte da eine gebrochene und ungewöhnliche Stimme. Und diese Stimme klang so besonders, so völlig anders als alles, was sonst so bei mir in meiner Plattenkiste stand. Dann kamen die Gitarren, der Bass, das einsetzende und vollklingende Klavier. Und die Band hatte mich bereits komplett gefangen, da hatte Phil Collins nur dreimal sein Ride-Becken gestreichelt (gut zu hören auf der Remaster-Ausgabe von 2008). Das Stück heißt „Dancing out with the moonlit knight“ und mehr braucht man von dieser Platte nicht gehört zu haben. Wer danach kein weiteres Interesse an dieser Band hat, sollte unverzüglich mit dem Lesen dieser Kritik aufhören.
Selling England by the Pound: All titles done by all
Nach diesem komplexen Einstieg in das Album folgt direkt die Single-Auskopplung „I know what I like“, ein federleichtes Stück, bei der die wunderbare, von Steve Hackett entwickelte Melodie sofort zum Mitsingen einlädt. „Selling England by the pound“ trägt übrigens als einzige Platte den Zusatz „All titles done by all“ und das gilt vor allem für die Arrangements. Allerkleinste Details wie das schon erwähnte Streicheln der Becken oder Keyboard-Phrasen, bei denen man raten muß, ob es nicht doch wieder die E-Gitarre ist, faszinieren auch heute noch.
Über „Firth of Fifth“ muß man nicht viele Worte verlieren, ich weiß noch wie glücklich ich war, dass der Gitarrenpart 1979 in der Tatort-Folge „Ein Schuss zuviel“ benutzt wurde. Meine Eltern mußten gezwungenermaßen meiner Musik zuhören. Gleiches ist mir ein Jahr vorher auch schon mit „Die Vorstadtkrokodile“ passiert. Hier wurden unter anderem „Fools“ von Deep Purple aber auch ein paar Stücke von Supertramp und sogar Alan Parsons Project gespielt. Aber das nur am Rande…
„Firth of Fifth“ ist ein Wortspiel, gemeint ist der schottischer Meeresarm „Firth of Forth“. Der Text ist laut Tony Banks einer der schlechtesten, an denen er jemals mitgeschrieben hat. . Trotzdem gehört der Song noch heute zu den bekanntesten progressiven Stücken, die jemals eingespielt wurden. Ein komplexes Intro, gespielt auf dem Klavier, dann Gabriels Gesang und anschließend spielen sich Banks und Gabriel gegenseitig mit dem Synthesizer und der Querflöte die Bälle zu. Dann Banks alleine mit einem kurzen Synthi-Solo und nun endlich Hackett mit seinem wohl schönsten Gitarrensolo, dass er Genesis hinterlassen hat. Wer mir an dieser Stelle irgendetwas von Genesis in den achtziger oder neunziger Jahren erzählen will, der soll sich bitte höflich aber bestimmt verpissen. Man höre sich die Dynamik nach dem Solo an, wenn die Band leise wird und die Coda spielt. Nur so geht progressive Musik, die auch nach 50 Jahren keine weiteren Fragen offen läßt.
Phil Collins singt
Auch Phil Collins trägt mit seiner einzigartigen Stimme zum Album bei. Bei „More fool me“ übernimmt er den Leadgesang, aber auch die zweite Stimme ist von ihm. Viele Kritiker sind der Meinung, dass der Song überflüssig ist und eher stört. Ich finde, dass ich nach dem Gitarrensolo von Hackett genau diesen Song brauche, um die erste Seite zu verarbeiten.
Genesis – You are a robbing hood
Wie schon zu Beginn erzählt, zitierte Thomas immer diese komische Textstelle „You are a robbing hood“, die er dem nächsten Stück „The Battle of Epping Forest“ entnommen hatte. Genesis waren mit diesem Stück nie so richtig zufrieden. Gabriel hatte zuviel Text geschrieben, die Musik kam nach Meinung der Band nicht so richtig zum Zuge. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Ich liebe die Art und Weise, wie Gabriel phrasiert, wie er die Geschichte erzählt. Es ist doch gerade diese Stimme, die Genesis eben ausmachte. Und auch die vielen Drumlicks, mit denen Collins den Text orchestriert. Genau hier versteht man, was die Band mit „All titles done by all“ gemeint hat. Nun startet auch noch der Reverend und erzählt seinen Teil der Geschichte, begleitet von einer zwölfsaitigen Gitarre, bis dann endlich der Robbing Hood kommt. Ganz wunderbar, wie Gabriel das „R“ rollt. Das Stück dauert 10 Minuten und keine Sekunde Langeweile ist dabei.
Ganz großes Kino
Auf der deutschen Genesis-Fanclub-Seite ist folgendes Zitat von Heinz Rudolf Kunze aus seiner Autobiografie zu lesen:
„Und dann gebe es da noch „jene für die Ewigkeit bestimmte Passage in ‚Cinema Show‘, in der [Genesis-Keyboarder Tony] Banks während des langen Synthesizer-Solos seine Finger beruhigt und dieses strahlend einfache Dur-Motiv spielt, um es anschließend in der Wiederholung mit dem Mellotron in die Sterne zu jubeln“.
Cinema Show ist ganz großes Kino. Ich habe mir noch keinen Song für meine Beerdigung ausgesucht, glaube aber, dass dieser hier einer sein könnte. Für das obige Zitat hat Kunze bei mir eine Plattenbesprechung verdient. Lieber HRK, die Städte sehen auch heute noch aus wie schlafende Hunde. Das beschriebene Synthesizer-Solo ist mit seiner Climax so unglaublich beflügelnd, dass man es jeden Tag immer wieder hören möchte. Ganz egal ob auf „Selling England by the pound“ oder auf dem Live -Album „Seconds out“, hier noch länger und in direkter Verbindung mit „Dance on a Volcano“ und „Los Endos“. Aber… ich schweife ab.
Sehr interessant finde ich auch die letzte Textzeile der „Cinema show“, in der es heißt „There is in fact more earth than sea“. So jedenfalls habe ich die Welt noch nicht betrachtet.
Angebote aus dem Supermarkt
Auf diesem Album geht die „Cinema show“ über in das letzte Stück der Platte, nämlich „Aisles of plenty“. Hackett zupft die Gitarrensaiten, bevor Banks und Gabriel übernehmen. Am Ende listet Peter Gabriel mit verschiedenen Stimmen die aktuellen Angebote aus dem Supermarkt auf. Dieses Album ist das Anrührendste, was ich jemals in meinem Leben gehört habe. Auf Augenhöhe mit „Crime of the century“ von Supertramp.
Daten zur Pressung
Erscheinungsjahr | 1973 |
Herkunftsland | England |
Katalognummer | CAS 1074 |
Label | Charisma |
Preis | Im Januar 2023 gibt’s die 2018 Reissue Vinyl für ca. 25 Euro* |
*Werbehinweis für Links: Es handelt sich um einen sog. Affiliate-Link, das heißt, wenn auf der verlinkten Website etwas eingekauft wird, erhält der Betreiber von plattenkritik.com eine Provision. Das hat keinen Einfluss darauf, wie eine Schallplatte bewertet wird.