Oft habe ich in meinem Zimmer auf meiner Gitarre die Soli von Everyone Is Everybody Else nachgespielt – natürlich ohne eine einzige Note wirklich spielen zu können. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mich über die Kritik der Zeitschrift „Sounds“ zu dieser Schallplatte geärgert habe. Es war nur ein einziger Satz:
If Everyone Is Everybody Else, Then Barclay James Harvest Is The Poor Mans Moody Blues.
Vernichtender konnte eine Kritik in meinen Augen nicht sein. Ich setzte mich hin und schrieb zum ersten Mal eine Plattenkritik, die ich anschließend mit einem Pritt Stift auf die Innenhülle klebte. Dort klebt sie noch heute:
Mal abgesehen davon, dass ich erst 15 Jahre alt war und gerade erst angefangen hatte, meinen Beatles-Kosmos zu verlassen, ist diese „Erläuterung“ heute nicht mehr richtig. Wahrscheinlich wollte ich neutral und ausgewogen klingen, daher habe ich die besten Songs so verrissen. Deshalb ist heute nach über 47 Jahren eine neue Bewertung dieser Platte mehr als angemessen.
Everyone Is
Everybody Else
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Ich weiß ja nicht ob es wirklich stimmt, aber das Label „Harvest“ soll sich nach Barclay James Harvest benannt haben. Und ich habe nicht wenige Platten von diesem Label, zum Beispiel von Pink Floyd oder auch Eloy und einiges mehr. 1974 wechselte die Band zu Polydor und brachte als erstes Studioalbum diese Album heraus, zum ersten Mal ohne die Unterstützung eines kostenverschlingenden Sinfonieorchesters. Die Songs waren plötzlich gradlinig und deutlich rockiger und eingängiger.
Child Of The Universe
Im gleich Jahr gab es auch noch das erste Live-Album der Band, allerdings ohne den Opener des Studioalbums. An diesem Song hatte die Band monatelang rumgebastelt und brachte dabei offensichtlich keine zufriedenstellende Version zu Stande. „Child Of The Universe“ findet sich daher auf verschiedenen Alben in verschiedenen Fassungen wieder.
Wobei mir die Fassung auf diesem Album immer noch am besten gefällt. Es gibt auch eine interessante Fassung auf dem Solo-Album von John Lees „A Major Fancy“ und den Fans gefällt wahrscheinlich immer noch die Live-Fassung von 1982 am besten, zu finden auf dem Album „Berlin (A Concert For The People)“. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber schon eher den Kinks und Bruce Springsteen zugeneigt.
Noch ein kleiner Exkurs am Rande: Auf dem Album „The Eye Of Wendor“ der Mandalaband kann man zum ersten Male das wundervolle Intro zur Live-Fassung von „Child Of The Universe“ hören, welches zum ersten Male 1977 auf der „Gone to Earth“ Tour und danach auf dem zweiten Live-Album „Live Tapes“ von 1978 zu hören ist.
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Mehr InformationenNegative Earth
Aus heutiger Sicht ist „Negative Earth“, der zweite Song des Albums, mein Favorit. Die bluesige Stimmung wird durch den transparenten Basslauf erzeugt, das E-Piano perlt und das Gitarrensolo von John Lees ist lässig und geschmackvoll. Die Band spielt tight und befindet sich unbewußt auf einem kreativen Höhepunkt ihrer Karriere.
Der Drummer komponiert
Mel Pritchard, der Drummer, ist ebenfalls wie Stuart „Wooly“ Wolstenholme bereits vor vielen Jahren verstorben. Seine einzige Nennung als Komponist bei einem Song erfolgt beim dritten Titel „Paper Wings“, möglicherweise aufgrund seines treibenden Schlagzeugspiels beim instrumentalen Ausklang des Stücks. Hier klingen die Gitarren unisono wie bei der Band „Wishbone Ash„, für mich ein Grund mehr, dieses Album zu mögen.
Auch die Bee Gees spielen eine Rolle…
wenn auch nur eine ganz kleine. John Lees klaut den Titel „The Great 1974 Mining Desaster“ bei den Brüdern Gibb und macht daraus seinen eigenen Song. Zum ersten Mal kommt bei Barclay James Harvest auch der Satzgesang zum Tragen, die Stimmen harmonieren prächtig und erinnern natürlich an Crosby, Stills & Nash. Der Song ist gelungen und hochmelodiös. Zu diesem Zeitpunkt war „Hymn“ bereits fertig komponiert und lag lauernd in der Schublade, dieser Song geht in die gleich Richtung und hätte auch ein großer Erfolg in Deutschland werden können. Ich mag vor allem das Schlagzeugspiel, das im Mix rechts und links aufs Ohr trommelt. Der Bass, das Piano, das Gitarrensolo – alles ist hörbar und wird nicht von anderen Instrumenten zugeschüttet. Der Song schließt die erste Seite des Vinyl-Albums ab.
Die zweite Seite…
beginnt mit „Crazy City“ und ich muss doch nochmal nachlesen, was ich damals darüber geschrieben habe. Der Einstieg hatte mich damals irritiert, der Song ist schön arrangiert, der Satzgesang kommt auch hier zur Geltung und das Mellotron darf am Ende auch mitspielen. Mit diesem Instrument versuchte die Band die fehlenden Streicher zu ersetzen, eigentlich wird eher die Anmutung eines Klangteppichs erzeugt.
Auch im folgenden Song „See Me See You“ gibt es diesen Klangteppich, aber auch unisono gespielte Gitarren, die sich in verschiedenen Melodien bestens gefallen. Offensichtlich hatte John Lees sehr viele Licks im Kopf, die alle untergebracht werden wollten.
Eine Song-Trilogie zum Abschluss
Der schon oben mehrfach erwähnte Satzgesang kommt bei den nächsten beiden Songs erneut und prominent zur Geltung. „Poor Boy Blues“ und „Mill Boys“ sind ineinander verzahnt und Les Holroyd und John Lees wechseln sich beim Leadgesang ab. Akustische Gitarren sind so noch nie und danach auch nie wieder bei Barclay James Harvest zum Einsatz gekommen. Der Übergang in den letzten Song gelingt bravourös, indem Holroyd noch einmal Strophen aus seinem Song „Poor Boy Blues“ wiederholt und in der Stille am Ende das Schlagzeug mit zwei, drei, Schlägen auf die Snaredrum und die Standtom „For No One“ einleitet, meinen langjährigen Favoriten des Albums.
For No One
John Lees hat immer wieder gegen das „Böse“ in der Welt angeschrieben und uns alle aufgefordert, endlich die Waffen (welche auch immer) niederzulegen. Und dann spielt er ein wirkliches schönes Solo, die Band singt den Refrain, der Bass spielt eine Melodie nach der anderen (die man auch hören kann). Und das zweite Gitarrensolo endet gedoppelt im Fade-Out des Albums. Dann ist Schluss und ich lege die Scheibe wieder von vorne auf. Wer nicht genug kriegen kann, hole sich bitte die CD mit ein paar Bonus-Stücken, die sich nur für den Fan lohnen, also für mich. Hier gibt es alternative Fassungen, die (nicht) zwingend nötig sind, unter anderem auch „Maestoso“, eine Komposition von Woolstenholme, die hier nicht reingepasst hätte. Der Song erschien dann 1980 in leicht abgewandelter Form auf seinem gleichnamigen Soloalbum.
Mein Kollege vom Sounds hat 14 Wörter gebraucht, um auf die Nähe zu den Moody Blues hinzuweisen. Offen gesagt – so gut wie Barclay James Harvest waren die Moodies bis auf wenige Songs nie. Und diese kristalline Klarheit einer Plattenaufnahme haben sie auch nicht hinbekommen. Wenn man ein gutes, ein sehr gutes Album ohne einen Füller haben will, hier ist es. „If Everyone Is Everybody Else, Then Barclay James Harvest Have Done A Wonderful Thing.“
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